Was Knochen erzählen und was nicht
10.04.2013Mord und Totschlag: War es Krieg? Eine Kulthandlung? Ein Unglücksfall? Die Würzburger Archäologin Heidi Peter-Röcher erforscht anhand von zum Teil jahrtausendealten Skelettfunden die Anzeichen und die Ursprünge von Gewalt.
Von Redaktionsmitglied CHRISTINE JESKE
Gab es bereits in der Steinzeit Krieg? Bei dieser Frage schüttelt Heidi Peter-Röcher, Professorin am Lehrstuhl für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie der Universität Würzburg, den Kopf. Was ist mit den Knochenfunden von Talheim, HerxheimoderEu-lau? Sie wurden bei ihrer Entdeckung jeweils plakativ sogar als Beweis für ein Massaker angesehen. Für einige Forscher wiesen die Spuren im Massengrab von Herxheim zudem auf Kannibalismus hin. Heidi Peter-Röcher ärgert sich über die ihrer Meinung nach vorschnellen Behauptungen. Sie dienten nur der Sensationsgier. Die Archäologin arbeitet unaufgeregter, interpretiert vorsichtiger. Sie schaut sich die menschlichen Überreste erst mal genau an, differenziert, vergleicht, sucht nach wissenschaftlich haltbaren Argumenten.
Sicher, Mord und Totschlag, generell Abgründe der menschlichen Natur, ziehen stets die Aufmerksamkeit auf sich, egal, ob sie vor Jahrtausenden geschehen sind oder in der Gegenwart. Und Kannibalismus wirkt so exotisch, dass ohnehin die Faszination die Abscheu überwiegt.
Weder für den oft zitierten „Krieg im Neolithikum" noch für den Kannibalismus gebe es Hinweise, sagt Peter-Röcher. Seit Jahren sind das ihre bevorzugten Themen, ebenso Sozialstrukturen und Konfliktlösungsstrategien. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Dr. Thomas Link lädt sie vom 14. bis 16. März für die internationale Tagung „Gewalt und Gesellschaft" Wissenschaftler nach Würzburg und freut sich, dass das Symposium von der Volkswagenstiftung gefördert wird. „Ohne finanzielle Unterstützung sind solche wichtigen Forschungsvorhaben kaum mehr möglich."
Auch bei den Definitionen für Gewalt, Konflikt, Krieg, kriegerische Auseinandersetzung, oder Fehde haben Anthropologen, Soziologen, Psychologen, Philosophen oder Politologen oft andere Ansichten. Ebenso darüber, was die Ursachen von Gewalt sind. Vom „Krieg im Neolithikum" spricht die Fachwelt, seit der australische Prähistoriker Vere Gordon Childe 1936 die Bezeichnung „Neolithische Revolution" prägte, eine Kurzformel für die grundlegenden Veränderungen in der Lebensweise der Jäger- und Sammler. Vor 10 000 Jahren begannen in Vorderasien und vor 7700 Jahren in Mitteleuropa die Menschen sesshaft zu werden. Land wurde in Besitz genommen, Häuser gebaut, Nachbarschaften entstanden. Dies führte zu Rivalitäten und zu Auseinandersetzungen.
So lautet, vereinfacht gesagt, die Begründung dafür, wie der Krieg in die Welt kam.
Wie war es bei Talheim? Das Massaker aus der Jungsteinzeit kam vor fast genau 30 Jahren ans Licht, als der Besitzer eines Aussiedlerhofes in seinem Garten ein Frühbeet vertiefen wollte. Nur wenige Zentimeter unter der Erdoberfläche stieß er auf einen Kieferknochen. Heute ist klar: 34 Menschen, darunter 16 Kinder und Jugendliche, wurden meist hinterrücks mit Schlägen auf den Kopf getötet. In einigen Knochen stecken noch Steinpfeile. Das jüngste Kind war zwei bis drei, das älteste Opfer circa 60 Jahre alt.
Die Gebeine in dem Massengrab aus der bandkeramischen Kultur (5500 bis 4900 vor Christus) lagen kreuz und quer übereinander. Der Tathergang lässt sich nicht mehr in allen Einzelheiten nachvollziehen. Dennoch gibt es laut Heidi Peter-Röcher Indizien dafür, dass es sich bei Talheim um einen Überfall auf eine Siedlungsgemeinschaft handelt. Die Täter erschlugen ihre Opfer überwiegend von hinten - im Schlaf oder auf der Flucht, denn an den Unterarmknochen fehlen typische Abwehrspuren. Zudem wurde an den Knochen kein Tierverbiss entdeckt. Deshalb ist die lieblose Bestattung unmittelbar oder kurze Zeit nach der Tat erfolgt, vielleicht von den Tätern selbst.
Ein Beispiel von organisierter Gewalt mit vielen Toten macht jedoch noch keinen Krieg. Dieser sei erst für hierarchische Gesellschaften charakteristisch, also für einen Staat, bei dem ein Herrscher die Macht und die Befehlsgewalt über eine Truppe von Kriegern oder Söldnern ausübt. Diese Strukturen tauchen jedoch laut der Würzburger Professorin in Mitteleuropa erst ab der Bronzezeit auf: vor etwa 3500 Jahren. „Staaten können erobern, in die Sklaverei führen und ihre Untertanen beherrschen. Aber dieser Apparat musste sich erst mal entwickeln", sagt Heidi Peter-Röcher, „ebenso die Ideologie, die dahintersteckt." Deshalb widerspricht sie, wenn es heißt: „Der Mensch war schon immer gierig, wollte Beute machen, und wenn er nichts hatte, ist er zum Nachbarn gegangen und hat ihn umgebracht, um an seine Vorräte zu kommen." Das würde nur einmal funktionieren - dann wäre es mit der Nachbarschaft vorbei. Und wäre der Mensch tatsächlich nur so veranlagt, dann gebe es ihn heute nicht mehr. Die Würzburger Forscherin will damit nicht andeuten, dass der Homo sapiens überwiegend friedliebend ist. „Er ist alles zugleich, brutal, egoistisch, altruistisch. Wie er sich verhält, das liegt an den gesellschaftlichen Strukturen, in denen er lebt."
Da heutige Gesellschaften nicht den damaligen entsprechen, ist bei der Beurteilung weit zurückliegender zwischenmenschlicher Gewaltakte der Blick über den wissenschaftlichen Tellerrand hilfreich. Auch Ethnologen können ihren Teil dazu beitragen, die Frage zu klären, wie Gesellschaften funktionieren. Heidi Peter-Röcher arbeitet interdisziplinär und sagt: „Das Töten war nie einfach, sondern unterlag meist komplizierten Ritualen. Es wurden viele Mechanismen erfunden, die verhindern sollten, dass sich Menschen gegenseitig massakrieren."
Immer wieder unterlag die Vernunft jedoch dem Gefühl - wie bei Talheim. Dort handelt es sich Peter-Röchers Ausführungen zufolge nicht um Krieg, sondern um eine brutal ausgetragene, persönlich motivierte Fehde. Womöglich drehte sie sich um verletzte Ehre. Eine Strontium-Isotopen-Analyse der Zähne ergab, dass einige Frauen - im Gegensatz zu den übrigen Opfern - nicht in Talheim aufgewachsen sind. Wurde sie einst vom Talheimer Clan geraubt? War es Rache? Die wahren Hintergründe werden wohl im Dunkeln bleiben.
Von Kannibalen in der Jungfernhöhle und einer Familientragödie
Unterschiedliche Interpretationen von Knochenfunden aus der Zeit der Neandertaler bis ins späte Neolithikum
"Cold Cases", ungeklärte Kriminalfälle, gibt es nicht nur in der Gegenwart. Auch die Archäologie sucht - lange nach dem Auffinden der sterblichen Überreste - nach neuen Indizien und bedient sich dabei ebenfalls modernster forensischer Methoden, um die Todesumstände von Menschen zu ergründen. Allerdings haben diese vor Jahrtausenden gelebt. Einige berühmte Beispiele:
Krapina
Im Norden Kroatiens liegt der Hügel Hus-njak. Auf diesen stieg 1899 der Archäologe Dagutin Gorjanovic-Kramberger. Unter einem Felsüberhang stieß er auf 130000 Jahre alte Knochenteile und Zähne. Erst wenige Jahre zuvor, 1856, tauchte bei Mettmann der erste Neandertaler auf. Kramberger grub die Überreste von etwa 70 Frühmenschen aus der Altsteinzeit aus. Erklärungen reichten von Krieg bis Kannibalismus, denn die Knochen zeigten Spuren von Gewalteinwirkung. Brandspuren und aufgeschlagene Knochenenden festigten die Ansicht: Hier waren Menschenfresser am Werk. Nicht so für Heidi Peter-Röcher, Professorin am Würzburger Lehrstuhl für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie. „Die Zerstörungen der
Knochen gehen auf natürliche Ursachen zurück - vor allem auf das Dynamit, mit dem sie ausgegraben wurden." Zwar würden die Schnitt- und Schabespuren auf den Knochen auf eine Entfleischung hinweisen, aber nicht zwingend auf Kannibalismus, so Peter-Röcher, eher auf ein in der Altsteinzeit übliches Totenritual. Die gesäuberten Knochen der Verstorbenen seien einige Zeit aufbewahrt und dann in einer eigenen Zeremonie endgültig an diesem Ort abgelegt oder vergraben worden.
Jungfernhöhle bei Tiefenellern
Auch in der Nähe von Bamberg wiesen die in den 1950er Jahren entdeckten zerbrochenen Knochen aus der frühen Jungsteinzeit unter dem Eingang der Jungfernhöhle bei Tiefenel-lern zunächst auf Kannibalismus hin. Es fand sich aber laut Peter-Röcher „trotz intensiver Suche keine durch den Menschen verursachte Spur, sondern nur Tierverbiss". Ihre Interpretation der über 7000 Jahre alten Befunde: Die Toten wurden einige Zeit woanders deponiert und ihre Skelette dann in der Höhle endgültig bestattet. Die Knochenbrüche können auch durch herabfallende Steine entstanden sein.
Herxheim
Seit 1995 geistert dieses Beispiel für angeblichen Kannibalismus durch die Welt der Archäologie. In Herxheim im pfälzischen Landau wurden rund 7000 Jahre alte Skelettreste von mindestens 500 Männern, Frauen und Kindern entdeckt. Die Knochen waren zerhackt, die Schädel gesäubert und die Schädelkalotten bearbeitet. Neben Kannibalismus war wieder von einem Massaker die Rede - aber auch von einer mehrstufigen Bestattungsweise. Durchgesetzt hat sich heute die Ansicht, dass es sich in Herxheim um einen bedeutenden überregionalen vorzeitlichen Kultplatz handelt, zu dem die Menschen zum Teil aus großen Entfernungen angereist sind, um die Knochen ihrer Angehörigen zu bestatten. Hinweise dafür sind die Reste qualitätvoller Keramiken, die zwischen den Knochen gefunden wurden.
Eulau
Berühmt ist auch das 2005 entdeckte Gräberfeld von Eulau bei Naumburg. Die vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt in Auftrag gegebenen Laboruntersuchungen ergaben, dass die 13, rund 4500 Jahre alten Toten aus der Schnurkeramik-Kultur zum Teil miteinander verwandt waren. An einigen Knochen sind Hieb- und Schusswunden zu erkennen. Besonders ein Grab steht im Fokus: Mutter und Tochter sowieVaterundSohnwurdeneinanderzugewandt und eng aneinander geschmiegt bestattet. Die in dieser Zeit übliche Ausrichtung der Toten (die Männer nach Westen, die FrauennachOstenundjeweilsmitBlickrichtung nach Süden) wurde dabei außer Acht gelassen. Laut Heidi Peter-Röcher könnte die Familie auch bei einem Unglück getötet worden sein. „Weichteilverletzungen sind an den Knochen nicht erkennbar, und nicht jeder Knochenbruch stammt von einem Hieb." Endgültige Aussagen seien (noch) nicht möglich, auch, weil die Skelette im Block geborgen wurden. „Die Unterseite wurde nicht untersucht", so Peter-Röcher. Der Blockwird im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle präsentiert.
MAIN-POST GESCHICHTE Samstag, 09. März 2013