Seikilos-Stele
Die Seikilos-Stele – Eine kurze Spanne ist das Leben…
Im Jahr 1883 wurde während der Arbeiten an einer Eisenbahnlinie in der Nähe der türkischen Stadt Aydın eine 80 cm hohe, zylinderförmige Stele aus Marmor gefunden. Der schottische Archäologe Sir William Mitchell Ramsay konnte den Fund als Grabstele eines gewissen Seikilos identifizieren. Das Epitaph wird heute aufgrund paläographischer Vergleiche in das 2. Jahrhundert n. Chr. datiert. Auf der Mantelfläche findet sich eine zwölfzeilige Inschrift:
Ich, der Stein,
bin das Abbild. Seikilos hat
mich hier aufgestellt als
langdauerndes Zeugnis
unsterblichen Andenkens.
„Solange Du lebst, tritt in Erscheinung,
Sei wegen gar nichts betrübt:
Eine kurze Spanne
ist das Leben,
Die Zeit verlangt,
dass ein Ende sei.”
Seikilos, Sohn des Euterpes, zu Lebzeiten.
Die ersten fünf Zeilen bilden ein elegisches Distichon, in dem der Stein sich und seinen Stifter vorstellt, ehe er von der sechsten bis zur elften Zeile eine in Imperativen formulierte Botschaft dem Leser mitteilt. Abgeschlossen wird die Inschrift durch eine einzeilige Nachschrift. Grabstelen, die scheinbar mit eigener Stimme sprechen, waren im antiken Kleinasien weit verbreitetet und dienten den Verstorbenen, noch nach dem Tod in Erinnerung zu bleiben. Dieses grundlegende Bestreben führte zu aufwändig gestalteten Grabmonumenten, die sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchten. Anders als bei anderen Grabstelen lassen sich über einigen Buchstaben der sechsten bis elften Zeile kleine Zeichen finden, die Ramsay allerdings noch nicht zu deuten wusste.
Erst Otto Crusius erkannte 1893 in ihnen griechische Noten. Die Ergänzung der Inschrift durch eine Notation, die den Leser anregt, einen Teil der Inschrift zu singen, ist ein unter den Epitaphen einzigartiges Phänomen. Damit zeichnet sich bis heute die Seikilos-Stele als eines der wenigen vollständig erhaltenen Beispiele griechischer Musik aus. Der Ursprung des diatonischen Liedes in iastisch-ionischer Tonart ist ebenso unbekannt wie die genaueren Lebensumstände ihres möglichen Verfassers. Es ist unklar, ob Seikilos ein Berufsmusiker oder nur ein amateurhafter Komponist gewesen ist, der durch die Notation seine musiktheoretischen Kenntnisse unter Beweis stellen wollte. Seine damit eigentlich verbundene Intention, der Nachwelt im Gedächtnis zu bleiben, ist ihm jedenfalls gelungen.
Thomas Ludewig