Von Kannibalismus keine Spur
04/15/2009Heidi Peter-Röcher untersucht gesellschaftliche Prozesse in der jüngeren Urgeschichte. (aus: "Blick" 2/2009, S. 10f.)
Zuletzt waren es die Überreste von Siedlern aus Colorado, die die Fantasie beflügelt haben. Vor rund 850 Jahren, so die These, sollen sie im Kochtopf fremder Eindringlinge gelandet sein: In regelmäßigen Abständen hat das Thema Kannibalismus auch heute noch Konjunktur. Dann ist die Archäologin Heidi Peter-Röcher gefragte Gesprächspartnerin auch der Medien. Sie hat über „Kannibalismus in der prähistorischen Forschung“ promoviert und gilt als ausgewiesene Expertin zum Thema, aber auch als entschiedene Kritikerin von Theorien über einen rituellen Kannibalismus in vergangenen Zeiten. Seit Herbst 2008 ist sie Professorin am Lehrstuhl für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie.
In ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit geht es Heidi Peter-Röcher vor allem um eine „Gesamtschau gesellschaftlicher Prozesse in der jüngeren Urgeschichte“. Dazu bearbeitet sie insbesondere kulturwissenschaftliche Fragestellungen. Am Beispiel von Themen wie Kannibalismus, Gewalt und Krieg, Entstehung von Herrschaft versucht sie, gesellschaftliche Entwicklungen aufzuzeigen – für einen Zeitraum, der sich von der Jungsteinzeit 6000 vor Christus über die Bronzezeit und die Eisenzeit in Mittel- und Nordeuropa bis in die römische Kaiserzeit erstreckt.
Das Fremde wird gerne der Menschenfresserei bezichtigt
Eine interdisziplinäre Arbeitsweise sei dabei von großer Bedeutung, sagt sie: „Denn ohne die Erkenntnisse anderer Wissenschaftsdisziplinen wie der Anthropologie, der Ethnologie und der Geschichte lassen sich derartige Fragestellungen kaum sinnvoll behandeln.“ Das zeigt sich gerade auch bei der Beschäftigung mit Kannibalismus. Das Fremde wurde laut Heidi Peter-Röcher zu allen Zeiten gerne der Menschenfresserei bezichtigt – sowohl das Fremde an den Rändern der bekannten Welt, als auch in der eigenen Gesellschaft. Im Mittelalter zum Beispiel Hexen und Juden. Homer und Herodot haben davon berichtet. Marco Polo hat angeblich auf einer indischen Insel hundsköpfige Menschenfresser gesichtet. Auch die Wissenschaft hat die Vorstellung, dass Menschen in einem rituellen Akt andere Menschen essen, bereitwillig aufgegriffen. „Wenn Knochen gefunden wurden, die Schnittspuren aufweisen und in einer Grube liegen mit Dingen, die als Abfall zu deuten sind, wurden diese lange Zeit als Beleg für Kannibalismus gedeutet.“
Erklärungsmuster dieser Art liegen Heidi Peter-Röcher mittlerweile ziemlich fern: „Solche Funde können auf Kannibalismus hindeuten“, sagt sie. „Aber sie müssen es nicht. Genauso gut können sie Hinweise auf andere rituelle Handlungen sein.“ Sekundärbestattungen zum Beispiel seien sogar noch in Griechenland üblich. Dazu werden die Gräber wieder geöffnet, die Knochen gesäubert, in ein Tuch gebettet und dann wieder bestattet. Oder in Tibet, berichtet sie, werden Musikinstrumente aus Beinknochen gefertigt. Dort gibt es auch spezielle Priester, die Tote zerlegen und den Vögeln zum Fraß darbieten, um sie möglichst gut ins Jenseits zu geleiten. „Bräuche wie diese muss man kennen und im Hinterkopf haben. Sonst bleibt einem bei der Deutung nur der eigene kulturelle Rahmen.“ Und diesem Umstand ist ihrer Meinung nach auch die Kannibalismus-Interpretation geschuldet, wie sie lange Zeit sogar noch in der Ethnologie vorherrschte.
Funde bedürfen der Interpretation
„Wir sind gefordert, Geschichte zu schreiben, anhand unserer Funde und Befunde. Aber die Funde sprechen nicht aus sich selbst heraus. Das, wofür wir keine Parallelen haben, können wir auch nicht deuten. Deshalb müssen wir, um sie interpretieren zu können, auf das Wissen anderer Fächer zurückgreifen und dieses wissenschaftlich einarbeiten“, ist die Archäologin überzeugt. „Die anderen Fächer wiederum basieren ihre Aussagen über die Entwicklung des Menschen und seiner Institutionen auf den Erkenntnissen der Vor- und Frühgeschichtlichen Archäologie.“
Sie selbst ist durch den amerikanischen Ethnologen William Arens zum Thema Kannibalismus gekommen. Sein Buch „The Man-Eating Myth“ hat sie inspiriert, die archäologischen Befunde zu diesen Fragen genauer anzuschauen. Und in der Folge war sie dann doch sehr überrascht, „wie wenig greifbare Argumente für einen rituell betriebenen Kannibalismus überhaupt übrig geblieben sind“.
Not-Kannibalismus hat es zu allen Zeiten gegeben
Für die Jungfernhöhle bei Tiefenellern in Oberfranken – auch als die Menschenfresserhöhle bekannt – konnte sie in ihrer Doktorarbeit sogar ganz eindeutig zeigen, dass es sich hier um Sekundärbestattungen aus der Jungsteinzeit und nicht um Überreste kannibalistischer Riten handelte. So gab es keine Verletzungsspuren an den Knochen. Außerdem waren bestimmte Knochen unterrepräsentiert. Und Schneide- und Eckzähne fehlten. Vielleicht wurden sie extra aufbewahrt, um sie als Kette um den Hals zu tragen, vermutet Heidi Peter-Röcher.
Ihre Schlussfolgerung: „Not-Kannibalimus“, also dass Menschen in Hungerperioden andere Menschen gegessen haben, hat es zu allen Zeiten gegeben. Aber dass dies auch aus rituellen Gründen geschehen sein soll, dafür hat sie noch keine zwingenden Anhaltspunkte gefunden. Nicht zuletzt liegen auch bis heute keine Augenzeugenberichte vor. In ihrem aktuellen Forschungsgebiet, Gewalt und Krieg, steht die gesellschaftliche Entwicklung im Vordergrund. So konnte Heidi Peter-Röcher auch hier anhand von Verletzungen und Schnittspuren an Knochen zeigen, dass es in alten Zeiten vor allem Pfeilverletzungen gab – also Male, die auf einen Fernkampf hindeuten. Damals, so lassen ethnologische Quellen vermuten, spielte die Fehde eine dominante Rolle. Jeder musste selbst sehen, wie er sich sein Recht verschafft. Dabei ging es nicht darum zu töten, sondern Überlegenheit zu zeigen, erklärt Heidi Peter-Röcher.
Im Lauf der Zeit aber wurden die Verletzungen vielfältiger, zahlreicher und schwerer. Für die Archäologin ein Indiz, dass die Brutalität und auch die Tötungsabsicht zunahm. Von der Eisenzeit an hat sie dann auch Massengräber von Männern gefunden, die im Kampf gefallen sind. „Erste Anhaltspunkte für Schlachten und Kämpfe in Formation, an denen Menschen nicht unbedingt freiwillig teilnehmen, sondern dazu auch gezwungen werden können“, interpretiert sie diese gesellschaftliche Entwicklung: „Mit den Kriegen, dem Streben nach Herrschaft, nimmt die Gewalt zu, bekommt sie eine ganz andere Qualität.“
Der kritische Umgang mit dem Material ist wichtig
Die Professur von Heidi Peter-Röcher ist die zweite am Lehrstuhl und Teil eines virtuellen archäologischen Zentrums für Nordbayern, das an den Universitäten von Würzburg, Bamberg und Erlangen angesiedelt ist. Während ihr Kollege Professor Frank Falkenstein vor allem die naturwissenschaftliche Ausrichtung des Fachs vertritt, ist ihre vorrangige Aufgabe die enge Kooperation mit den Kulturwissenschaften.
Den Studierenden will die Archäologin vor allem mit auf den Weg geben, immer einen kritischen Blick zu werfen auf das, was sie sehen und lesen: Kritisch mit Materialien umzugehen. Nicht alles zu glauben. Auch in die Nachbardisziplinen einen kritischen Blick zu werfen: „Man glaubt immer, was man ausgräbt, das ist was Handfestes, das hat man. Aber was man nicht kennt, das sieht man auch nicht“.
Margarete Pauli
Zur Person
Heidi Peter-Röcher, geboren 1960 in Berlin, hat Ur- und Frühgeschichte, Geologie und Ethnologie an der Freien Universität Berlin (FU) studiert. Nach ihrer Promotion war sie von 1993 bis 2000 Geschäftsführerin der Gesellschaft für Archäologische Denkmalpflege e.V., Berlin, im Anschluss wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Prähistorische Archäologie der FU, wo sie sich 2007 habilitiert hat.
In den Jahren 2007/08 war sie als Lehrbeauftragte in Würzburg und Bamberg tätig. Seit dem Wintersemester 2008/09 ist sie Professorin am Lehrstuhl für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie in Würzburg.